StP 74 Nr. 1 Liquidatorenhaftung
1. Allgemeines
Endet die Steuerpflicht einer juristischen Person, haften gemäss § 74 Absatz 1 StG bzw. Artikel 55 Absatz 1 DBG die mit ihrer Verwaltung und die mit der Liquidation betrauten Personen solidarisch für die von ihr geschuldeten Steuern bis zum Betrag des Reinvermögens der juristischen Person. Diese Bestimmungen sind Artikel 15 Absatz 1 VStG nachgebildet.
Die solidarische Haftung dient vor allem der Sicherungsfunktion von Steuerforderungen. Kann die steuerpflichtige juristische Person nicht mehr belangt werden, sollen solidarisch und subsidiär die vom Steuergesetz als mithaftend bezeichnete Personen in die Haftung für die Steuerausstände der juristischen Person einbezogen werden (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.3.2.; Locher/Giger/Pedroli, Kommentar zum DBG, II. Teil, Art. 49-101 DBG, 2. Auflage, Basel 2022, Art. 55 N 1). Diese solidarische Mithaftung soll auch präventiv auf die Bezahlung von Steuerforderungen juristischer Personen hinwirken (Locher/Giger/Pedroli, Kommentar zum DBG, II. Teil, Art. 49-101 DBG, 2. Auflage, Basel 2022, Art. 55 N 1).
Endet die Steuerpflicht einer juristischen Person, kann sich der Steuerbezug schwierig gestalten, da die juristische Person im Zeitpunkt der Inkassomassnahmen in den meisten Fällen bereits nicht mehr existiert. § 74 Abs. 1 StG will diesem Bezugsnotstand entgegenwirken, indem die mit der Verwaltung und mit der Liquidation betrauten Personen in eine solidarische Mithaftung einbezogen werden. Diesen steht es offen, einen Entlastungsbeweis zu erbringen.
2. Voraussetzungen der Liquidatorenhaftung
2.1. Ende der Steuerpflicht aufgrund persönlicher Zugehörigkeit
2.1.1. Allgemeines
Die Solidarhaftung kann erst bei Ende der primären Steuerpflicht beansprucht werden (die Solidarhaftung bei Ende der Steuerpflicht infolge wirtschaftlicher Zugehörigkeit ist in § 74 Abs. 2 StG geregelt). Keine Voraussetzung für die Solidarhaftung ist das Vorliegen von Pfändungs- oder Konkursverlustscheinen. Die Haftungsträger können bereits dann belangt werden, wenn absehbar ist, dass die Eintreibung der Steuerforderungen bei der juristischen Person erfolglos bleiben wird.
Gemäss § 72 Abs. 2 StG endet die Steuerpflicht mit Sitzverlegung aus dem Kanton, mit dem Abschluss der Liquidation oder mit dem Wegfall der im Kanton steuerbaren Werte.
2.1.2. Liquidation
Nicht nur die formelle Liquidation, sondern auch die sogenannte faktische Liquidation fällt in den Anwendungsbereich der Haftung. Dabei kann die im Bereich der verrechnungssteuerrechtlichen Haftung entwickelte Praxis zur faktischen Liquidation übernommen werden (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.3.2.).
Der Beginn der faktischen Liquidation ist auf den Zeitpunkt der ersten Handlung, welche auf Aushöhlung der Gesellschaft gerichtet ist, zu legen (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.3.3.). Dabei sind alle erheblichen Vermögensdispositionen als faktische Liquidationshandlungen zu qualifizieren, welche nicht als ordentliche geschäftliche Transaktion zu beurteilen sind. Dabei greift eine Ex-post-Betrachtung (Locher/Giger/Pedroli, Kommentar zum DBG, II. Teil, Art. 49-101 DBG, 2. Auflage, Basel 2022, Art. 55 N 13).
Die Beweislast für Transaktionen im Zusammenhang mit der ordentlichen Geschäftstätigkeit liegt bei der steuerpflichtigen Person (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.3.3.).
2.2. Haftungsträger
Gemäss § 74 Absatz 1 StG haften einerseits Personen, welche mit der Verwaltung betraut sind und solche, welche die Liquidation der juristischen Person verantworten.
Unter die mit der Verwaltung betrauten Personen fallen:
Verwaltungsräte von Kapitalgesellschaften oder Genossenschaften,
die Geschäftsführer von GmbH,
die Mitglieder des Vereinsvorstandes sowie Stiftungsorgane,
aber auch faktische Organe, denen trotz mangelnder formeller Organstellung erhebliche Entscheidungsbefugnis innerhalb der juristischen Person zukommt.
Neben den formell eingesetzten Liquidatoren im Sinne der Artikel 740, 770, 821a und 913 OR haften auch sogenannte faktische Liquidatoren. Darunter sind sämtliche mit der Verwaltung oder Geschäftsleitung befassten Personen, die mit der Liquidationstätigkeit in irgendeiner Form betraut worden sind oder auf die formelle oder faktische Liquidation einen tatsächlichen Einfluss ausüben (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.1.).
2.3. Haftungsbegrenzung
2.3.1. In zeitlicher Hinsicht
Die Solidarhaftung erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht auf alle noch nicht verjährten Steuerforderungen. Massgebend sind daher die Bezugsverjährungsfristen gemäss § 153 StG bzw. Artikel 149a SchKG bei Verlustscheinforderungen.
2.3.2. In quantitativer Hinsicht
Die Haftung ist betraglich auf das „Reinvermögen“ der juristischen Person begrenzt. Das Reinvermögen einer juristischen Person stellt den Gesamtwert aller Aktiven abzüglich der Passiven dar. Neben dem buchmässigen Eigenkapital sind sämtliche stillen Reserven, Goodwillkomponenten sowie allfällig in den haftungsrelevanten Steuerperioden erbrachte verdeckte Gewinnausschüttungen dazu zu rechnen.
Massgebend ist der Vermögensstand zum Zeitpunkt des Beginns der Liquidation, d.h. gemäss letzter vor Liquidation eingereichter Jahresrechnung (in analoger Anlehnung an die Praxis zu Art. 15 Abs. 1 VStG, Meister, in: Zweifel/Beusch/Bauer-Balmelli (Hrsg.), Kommentar zum VStG, 2. Aufl., Basel 2012, Art. 15 N 20; siehe auch BGer 2C_472/2015, Erw. 3.3.4.).
2.4. Nichtgelingen des Entlastungsbeweises
Die Haftung entfällt, wenn der Haftende nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat. Diese Bestimmung entspricht Artikel 55 Absatz 1 letzter Satz DBG. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erscheint es jedoch gerechtfertigt, an den Entlastungsbeweis gemäss Art. 55 Absatz 1 DBG weniger hohe Anforderungen zu stellen als an sein verrechnungssteuerrechtliches Pendant in Artikel 15 Absatz 1 VStG (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.4.1.).
Gleichwohl müssen die in die Haftung einbezogenen Personen nachweisen, dass sie in Bezug auf ihre formelle oder faktische Stellung innerhalb der juristischen Person die erforderliche Sorgfalt angewendet haben, sodass sie faktisch und rechtlich keine Möglichkeit hatten, angemessene Sicherstellungsmassnahmen für die Steuerforderungen anzuordnen, für welche sie belangt werden (Richner/Frei/Kaufmann/Rohner, Kommentar zum Zürcher Steuergesetz, 4. Aufl., Zürich 2021, § 60 N 18). Diesbezüglich ist aber ein hoher objektiver Massstab anzulegen. Insbesondere das Vorbringen, das eigentliche Tagesgeschäft bzw. konkrete Liquidationshandlungen seien an Angestellte delegiert worden, genügt für einen Entlastungsbeweis nicht (BGer 2C_472/2015, Erw. 3.4.2.).
3. Verfahren
3.1. Haftungsverfügung
Das Steuerrechtsverhältnis besteht nur zwischen dem „Fiskus“ und der steuerpflichtigen Person. Die Solidarhaftung der daraus entstandenen Steuerforderung ist daher in einer separaten, rechtsmittelfähigen Haftungsverfügung geltend zu machen (Locher/Giger/Pedroli, Kommentar zum DBG, II. Teil, Art. 49-101 DBG, 2. Auflage, Basel 2022, Art. 55 N 3).
Die Haftungsverfügung ist betreffend Anfechtbarkeit analog einer Schlussrechnung ausgestaltet. Sie ist von der Bezugsbehörde an die haftende Person zu eröffnen.
3.2. Materielle Einwendungen gegen die Steuerforderungen der juristischen Personen
Hat die solidarisch belangte Person bei der juristischen Person eine formelle oder faktische Organstellung inne, sind materielle Einwendungen gegen die Steuerforderungen nicht mehr zuzulassen, sofern solche im Veranlagungsverfahren bereits hätten durch die haftende Person vorgebracht werden können.
Materielle, steuermindernde Einwendungen sind zuzulassen, wenn die haftende Person für Steuerforderungen belangt wird, welche vor ihrer Tätigkeit für die juristische Person entstanden sind.
Ebenso kann vorgebracht werden, dass die Steuerforderungen durch Zahlung, Erlass oder Verjährung untergegangen sind und deshalb keine Solidarhaftung mehr besteht. Ebenfalls im Verfahren der Haftungsverfügung kann der Entlastungsbeweis erbracht werden, welcher bei Gelingen zur Haftungsbefreiung führt.