StP 2 Nr. 26 Verfahren bei interkantonalen Sachverhalten
1. Verfahren bei strittigen Steuerdomizilen
Aus dem verfassungsmässigen Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung gemäss Artikel 127 Absatz 3 BV steht gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der steuerpflichtigen Person ein verfassungsmässiger Anspruch zu, dass bei strittigen Steuerdomizilen zuerst über die Veranlagungszuständigkeit entschieden wird, bevor weitere Veranlagungsmassnahmen erfolgen (BGE 137 I 273 E. 3.3.2).
Bei diesem Feststellungsentscheid handelt es sich um einen sogenannten Steuerdomizilentscheid. Die steuerpflichtige Person ist in diesem Verfahren mitwirkungspflichtig (BGer 2C_2011/2021, 2C_212/2021, E. 5.1.1; Margraf/Seiler, Das interkantonale Steuerrecht in den Verfahren der kantonalen Steuerverwaltungen, FStR 2021, 201 ff., 207). Das Steuerdomizilverfahren ist dem Veranlagungsverfahren vorgelagert
(Mayhall-Mannhart/Beusch, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 40 N 4).
Der Steuerdomizilentscheid kann mit den ordentlichen Rechtsmitteln analog Anfechtung einer Veranlagungsverfügung angefochten werden (Mayhall-Mannhart/Beusch, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 40 N 18).
Der Erlass eines Steuerdomizilentscheids ist vor Ablauf der Steuerperiode zulässig, sofern sich die Verhältnisse bis zum Stichtag nicht mehr ändern (BGer 2P.171/2005, E. 4.1; RÜTSCHE/MARGRAF, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 35 N 18).
Ein Steuerdomizilentscheid ist nicht erforderlich, wenn mindestens eine beschränkte Steuerpflicht bestehen bleibt. Diesfalls kann der Umfang der Steuerpflicht auch im Veranlagungsverfahren festgestellt werden (Margraf/Seiler, Das interkantonale Steuerrecht in den Verfahren der kantonalen Steuerverwaltungen, FStR 2021, 201 ff., 207).
2. Deklarations- und Veranlagungsverfahren
Begründet eine steuerpflichtige Person in mehreren Kantonen eine Steuerpflicht, so wird in jedem Kanton ein eigenständiges Veranlagungsverfahren durchgeführt (Art. 2 Abs. 4 StHV). Ebenso ist in jedem Kanton eine Steuerdeklaration einzureichen. Gemäss Artikel 2 Absatz 2 StHV besteht aber im interkantonalen Verhältnis eine vereinfachte Deklarationspflicht, indem eine Kopie der Steuererklärung des Hauptsteuerdomizilkantons bei den Nebensteuerdomizilkantonen eingereicht werden kann.
3. Kantonale Rechtsmittel
Entscheide über die Inanspruchnahme der Steuerhoheit oder im Veranlagungsverfahren getroffene Entscheide können von den Steuerpflichtigen grundsätzlich mit den kantonalen Rechtsmitteln wegen Verletzung des Doppelbesteuerungsrechts angefochten werden (vgl. StP 164 Nr. 1 Einspracheverfahren ff.). In solchen Fällen wird das im betreffenden Kanton geltende Verfahrensrecht angewendet (Art. 2 Abs. 4 StHV).
4. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
4.1. Voraussetzungen
Bei Beschwerden wegen interkantonaler Kompetenzkonflikte beginnt die 30-tägige Beschwerdefrist von Artikel 100 Absatz 1 BGG spätestens dann zu laufen, wenn in beiden Kantonen Entscheide getroffen worden sind, gegen welche beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann (Art. 100 Abs. 5 BGG).
Deshalb muss mindestens ein Entscheid einer letzten kantonalen Instanz im Sinn von Artikel 86 Absatz 1 Bst. d BGG vorliegen, was die Ausschöpfung mindestens eines kantonalen Instanzenzuges bedeutet (siehe auch BGer 2C 502/2007; KOCHER, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 44 N 45).
Danach kann der letztinstanzliche Entscheid dieses Kantons sowie die bereits rechtskräftige Verfügung des anderen am Doppelbesteuerungskonflikt beteiligten Kantons mit Beschwerde beim Bundesgericht angefochten werden.
Aufgrund des letztinstanzlichen Entscheids eines beteiligten Kantons kann eine bereits rechtskräftige, aber fehlerhafte Veranlagung eines anderen beteiligten Kantons nicht mit dem Verweis auf Doppelbesteuerung angefochten werden, sofern darin die interkantonalen Zuteilungsnormen nicht verletzt wurden (z.B. ungerechtfertigterweise gekürzter Berufskostenabzug, der keinen unmittelbaren Bezug zum interkantonalen Doppelbesteuerungsrecht aufweist).
4.2. Verwirkung des Beschwerderechts
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verwirkt das Beschwerderecht der steuerpflichtigen Person unter drei kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen (Brunner/Beusch, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 42 N 9 m.w.H.):
Die steuerpflichtige Person muss vom kollidierenden Steueranspruch des Zweitkantons Kenntnis haben.
Sie anerkannt trotz Kenntnis des kollidierenden Steueranspruchs den Steueranspruch des erstveranlagenden Kantons ausdrücklich oder stillschweigend und vorbehaltslos.
Der erstveranlagende Kanton erhebt vor Bundesgericht die Verwirkungseinrede.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung tritt die Verwirkung als Rechtsfolge auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der steuerpflichtigen Person ein (siehe auch BGer 2C_522/2019, E. 4.2.1; Brunner/Beusch, in: Zweifel/Beusch/de Vries Reilingh (Hrsg.), Interkantonales Steuerrecht, 2. Aufl., Basel 2021, § 42 N 13 ff.).
5. Verwirkung des kantonalen Steueranspruchs
Ein Kanton, dem die für die Steuerpflicht massgebenden Tatsachen bekannt sind oder bekannt sein müssten, verwirkt unter folgenden zwei Voraussetzungen das Recht auf Besteuerung:
wenn der Kanton mit der Geltendmachung des Steueranspruches ungebührlich lange zuwartet;
wenn bei Gutheissung des nachträglich erhobenen Steueranspruches ein anderer Kanton zur Rückerstattung von Steuern verpflichtet werden müsste, die dieser formell ordnungsgemäss in guten Treuen und in Unkenntnis des konkurrenzierenden Steueranspruchs bezogen hat.
Die Unkenntnis des konkurrenzierenden Steueranspruches genügt als solches nicht. Die Verwirkung tritt nur ein, wenn der Kanton den konkurrenzierenden Anspruch bei Anwendung der zumutbaren Sorgfalt nicht hätte kennen müssen oder kennen können.
Eine übermässige Verzögerung des Steuerverfahrens liegt bei periodischen Steuern in der Regel vor, wenn der Anspruch nicht innerhalb von zwei Jahren gestellt wird. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung müssen die Kantone im System der jährlichen Postnumerando-Besteuerung ihre Ansprüche in demjenigen Jahr geltend machen, welches auf die Veranlagungsperiode folgt – und nicht mehr in demjenigen Jahr, welches auf die Steuerperiode folgt, ansonsten sie ihre Ansprüche verwirken (BGE 132 I 29).
Der Einwand, der Kanton habe seinen Steueranspruch wegen verspäteter Geltendmachung verwirkt, kann nach konstanter Praxis des Bundesgerichts nur von anderen Kantonen, nicht aber von der steuerpflichtigen Person erhoben werden (BGE 123 I 267).
6. Unilaterale Rechtsbehelfe
Um der steuerpflichtigen Person den aufwändigen Weg ans Bundesgericht zu ersparen, werden bereits rechtskräftige Thurgauer Veranlagungen im Revisionsverfahren abgeändert, sollte erstellt sein, dass der Thurgauer Steueranspruch klarerweise gegen interkantonales Doppelbesteuerungsrecht verstösst (siehe auch StP 179a Nr. 1 Revisionsverfahren; Margraf, Ausgewählte Aspekte des interkantonalen Steuerverfahrensrechts, StR 2016, 732ff., 738).